Auf dem Spaziergang heute Nachmittag durfte Smalik frei laufen, da es in diesem Gebiet kein Wild (und keine Katzen) gibt. Das ist unter Hundefreunden bekannt und es kommen auch viele Leute mit jagdlich ambitionierten Hunden extra dorthin, weil sie da frei laufen und so auch Sozialkontakte pflegen können.
Smalik läuft also vor mir her – auf einmal drückt er die Nase auf den Spazierweg und dann geht es blitzschnell – weg ist er… Mein Rückruf verhallt ungehört und meine Hoffnung, dass er nach 5 oder 10 Minuten wieder zurück kommt, zerschlägt sich bald einmal. Ich warte die erste Viertelstunde noch ungefähr da, wo er abgehauen ist, merke aber dann, dass es aussichtslos ist. Ich sehe ihn nirgends, ich höre kein Rascheln, kein Bellen – nix! Und wegen der Ferienzeit sind fast keine anderen Spaziergänger unterwegs. Also laufe ich kreuz und quer, auf und ab, hin und zurück… Ich treffe auf einen Hundehalter, dem ich meine Nummer gebe; könnte ja sein, dass Smalik sein Halsband samt Marke verloren hat, wenn ihn jemand findet. Eine weitere Hundehalterin begegnet mir; auch sie hat nichts gesehen, nichts gehört. Es ist jetzt schon mehr als eine halbe Stunde vergangen. Und in solchen Momenten kommt einem jede Minute wie eine Stunde vor.
Ich suche weiter. Ich spreche eine weitere Frau an, die mit zwei Hunden unterwegs ist. Natürlich hat auch sie Smalik nicht gesehen. Aber sie ruft in der nahe gelegenen Klinik an, falls dort jemand den Hund findet. Ich suche weiter… zwischendurch rufe ich oder pfeiffe; die Hoffnung, dass er darauf hört ist klein. Wenn er im Jagdfieber ist, ist ihm so ziemlich ALLES egal! Jagen ist sein Leben – es gibt nichts, rein gar nichts, was er lieber macht! Und wenn nichts zum Jagen da ist, dann sucht man halt eben was…
Mir ist klar, dass ich diesen Hund nie mehr irgendwo frei laufen lassen kann! Diese Erkenntnis hat sich seit längerem abgezeichnet, aber es zu akzeptieren, ist dann doch etwas anderes. Jetzt geht es mir aber in erster Linie darum, dass ich ihn wieder finde! Er könnte überall sein; drei Dörfer weiter zum Beispiel oder mitten auf der Kreuzung der Hauptstrassen… In einem Fuchsbau? Kopflos hinter einer Katze her..? Mir gehen tausend Ideen durch den Kopf. Die meisten versprechen kein gutes Ende.
Aber ich kann ja nicht einfach aufhören, nach ihm zu suchen… Ich laufe zum angrenzenden Quartier, spreche Velofahrer an – keiner hat einen kleinen Hund gesehen. Seit einer Stunde rennt dieses braune Tier nun schon herrenlos umher. Oder er steckt irgendwo fest..? Oder er kämpft mit einem Tier…? Bestenfalls sucht er auch mich…
Ich denke daran, die Polizei zu informieren. Möglicherweise verursacht der Hund auf seiner idiotischen Jagd einen Unfall? Ich warte ab, hoffe, dass ich ihn wieder finde, bevor es dunkel wird. „Nein, gar nicht daran denken“, rede ich mir ein. Ich blicke über das beschauliche Quartier mit seinen adretten Mehrfamilienhäusern; verglaste Attika-Terrassen oben, einwandfrei gemähte Rasen unten. Würde in dieser peniblen Ordnung ein Hund herumstreunen, hätte das längst jemand bemerkt. Mein Gefühl sagt: Nein!
Ich blicke auf die Uhr; 16.55h. Ich suche weiter. Rufen und Pfeiffen habe ich aufgegeben. Wer weiss, ob Smalik überhaupt noch in hörweite ist…? Ich treffe zufällig einen ehemaligen Schulkollegen, der hier einen Kinderhort betreut. Er hat keinen Hund gesehen, ist eher auf SmallTalk eingestellt. „Weisst Du noch…?“, „Und hast Du noch Kontakt zu…?“ Unter anderen Umständen würde ich jetzt gern in Gedanken in die Schulzeit abdriften – aber mir ist verständlicherweise gerade nicht danach!! Ich verabschiede mich freundlich aber bestimmt (!).
Die Leine habe ich mittlerweile in der Tasche versorgt – ob ich sie jemals wieder brauchen werde…? Gedankenverloren biege ich in einen schmalen Weg ein. Bis zur nächsten Kurve will ich den Weg ablaufen. Bald sehe ich jedoch, dass der Weg aufhört. Ich kehre wieder um. Es sind nun bald zwei Stunden vergangen. Ich will mich wieder auf den breiten Spazierweg begeben. Da höre ich auf einmal neben mir ein Hecheln – direkt neben mir! Da steht der Ausreisser! Ich packe ihn am Halsband und leine ihn kommentarlos an. Wo ist er hergekommen? Ich habe keine Ahnung – er war einfach plötzlich da! Mir fällt ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, die Kehle schnürt sich zu. Ich hab‘ ihn wieder! Wo er war, woher er kam und wieso er urplötzlich neben mir stand, werde ich nie wissen. Ich erkläre es mir für den Moment damit, dass Zwillinge einander immer finden werden;
Zwei Seelen und ein Gedanke – zwei Herzen und ein Schlag!